Der bislang am längsten amtierende Finanzminister Deutschlands und "Mister Euro": Das sind zwei Titel, die im Lebenslauf von Theo Waigel stehen. Im Interview wirft der Elder Statesman von der CSU einen Blick auf die politische Lage in Berlin und sagt, was der größte Fehler seines Amtsnachfolgers Christian Lindner war.

Ein Interview

Aus dem beschaulichen Oberrohr bei Krumbach zog es ihn einst auf die große, politische Bühne nach Berlin. Als Finanzminister musste er unter anderem die Mammutaufgabe Wiedervereinigung stemmen und in Bayern in die großen Fußstapfen der CSU-Lichtgestalt Franz-Josef Strauß als Parteivorsitzender treten. All das hat Theo Waigel geschafft und noch vieles mehr. Jetzt genießt er seinen Ruhestand in eben diesem Oberrohr, aus dem er damals losgezogen war.

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Ganz untätig ist der Vater des Euro aber nicht. Er arbeitet mit 85 Jahren immer noch gelegentlich in der Anwaltskanzlei seines Sohnes in München und besucht regelmäßig den Ludwig-Erhard-Gipfel am Tegernsee. Die Politik seiner Nachfolger in Berlin verfolgt er ganz genau und bildet sich seine Meinung. Und eben über diese Meinung hat unsere Redaktion mit dem CSU-Ehrenvorsitzenden gesprochen.

Herr Waigel, bei der aktuellen politischen Lage in Deutschland und der Welt, all den Krisen und Problemen, wünschen Sie sich manchmal wieder zurück in die politische Schaltzentrale nach Berlin oder haben Sie Ihren Frieden mit der Politik geschlossen?

Theo Waigel: Ich sehne mich nicht zurück, heißt es in "Das letzte Band" von Samuel Beckett. Ich bin mittlerweile resozialisiert und kann ohne aktive Teilnahme an der Politik leben, würde es mir aber zutrauen, wenn ich 30 Jahre jünger wäre. Dennoch verfolge ich die aktuelle Politik, habe meine Meinung und äußere sie auch manchmal, dränge mich aber nicht auf und halte mich mit täglichen, wohlfeilen Ratschlägen zurück.

"Wir werden unter Wert regiert."

Dr. Theo Waigel

Wie sieht Ihre Meinung zur aktuellen Regierung in Berlin aus?

Wir werden unter Wert regiert. So viel Durcheinander hatten wir in den 16 Jahren Koalition mit der FDP damals nicht. Bei uns gab es auch Krisen und Probleme, aber ein solches Hickhack bei Entscheidungen hat es seit 1949 nicht gegeben.

Mit normaler politischer Diskussion hat das also nichts zu tun?

Die drei passen nicht zusammen. Lindner hat 2017 den Fehler gemacht und sich gegen eine Koalition mit der CDU/CSU entschieden. Sein "Besser nicht regieren, als schlecht regieren" fällt ihm jetzt auf die Füße, denn schlechter kann man gar nicht regieren.

Damals wären die Grünen auch in der Koalition gewesen.

Wäre er damals Finanzminister geworden, hätte er die Union im Rücken gehabt. Die Grünen hätten sich nicht gegen zwei Parteien durchsetzen können. Jetzt ist er der Kleinste in der Koalition und ist ein Ärgernis für die andern. Für mich ist das eine Konstellation, die nicht gut gehen kann.

Der Kleinste setzt sich aber oft genug durch.

Das muss er auch, denn wenn er finanz- oder stabilitätspolitisch nachgibt, vergrault er auch noch die letzten Wähler. Der Bundestagswahlkampf der FDP wird ohnehin schwierig, wenn man in einer Regierungskoalition ist, aber sagen muss, nächstes Mal machen wir alles anders.

Hält die Ampel noch bis zum Wahltermin im September 2025 durch?

Das kann im Moment niemand vorhersagen – auch angesichts der personellen Probleme. Die Grünen-Spitze sowie der SPD-Generalsekretär treten zurück. Das sind Prozesse des Auseinanderfallens. SPD und Grüne sind in der Krise. Die FDP liegt bei drei bis vier Prozent. Schlimmer kann es eigentlich nicht werden.

"Wir sind wieder der kranke Mann Europas."

Dr. Theo Waigel

Sie sagen es selbst, die Ampel-Parteien sind in der Krise. Das wurde bei der Europawahl und den Landtagswahlen deutlich. Warum arbeitet sich die CSU weiterhin an den Grünen ab, anstatt gegen den Wahlsieger AfD zu kämpfen?

Die Grünen haben bei der Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik versagt. Robert Habeck hat kein Konjunkturprogramm auf Lager. Und über Einsparungen wird auch überhaupt nicht gesprochen. Wir haben während der Wiedervereinigung 120 Milliarden DM einsparen müssen. Außerdem zieht Deutschland die Konjunktur in Europa nach unten. Wir sind wieder der kranke Mann Europas.

Was würden Sie anders machen?

Es braucht mehr Entbürokratisierung und eine Reduzierung der Unternehmenssteuern. Es traut sich auch niemand zu sagen, weil es wenig populär ist, aber die Lebensarbeitszeit muss flexibler werden. Es braucht eine längere Arbeitszeit, das sagt uns schon die Demografie und die Mathematik. Aber das traut sich die Regierung nicht auszusprechen.

Christian Linder setzt sehr stark auf Einsparungen in seinem Haushalt für 2025. Experten sagen allerdings, dass es jetzt eigentlich mehr Schulden und mehr Investitionen bräuchte, um die deutsche Wirtschaft wieder anzukurbeln.

Ich rede auch nicht von Einsparungen nur der Einsparungen wegen, sondern das dadurch freiwerdende Geld muss investiert werden – beispielsweise in Bildung. Es braucht ein Gesamtpaket, was mit den Einsparungen finanziert werden kann. SPD und Grüne wollen einfach nur mehr Schulden machen ohne Plan.

Zudem dürfen Schulden und die Aufhebung der Schuldenbremse nur das äußerste Mittel sein und nicht am Anfang des Denkprozesses stehen. Aber die Ampel hat in der Krise die Sozialausgaben erhöht und die Nettoinvestitionen gesenkt. Da stimmt einfach die Balance nicht mehr.

Zu Beginn der Ukrainekrise 2022 gelang es beispielsweise noch, mit der Hilfe der Union einen Sonder-Haushalt für die Bundeswehr aufzulegen. Jetzt scheinen die Fronten zwischen Opposition und Ampel so verhärtet wie nie. Ist der Ton in der Politik rauer geworden?

Ich musste in den 90ern für meine Steuerpolitik oder bei der Einführung des Euro nicht nur feinfühlige Kommentare verkraften. Aber die neuen Medien haben vieles verändert. Der Ton ist rauer und unerbittlicher geworden. Es ist auch verantwortungsloser geworden. Früher musste man sich für jede Aussage verantworten. Heute übernimmt kaum noch jemand Verantwortung und das ist ein Übel, dass der Demokratie wehtut.

"Politik ist kein Liebesspiel."

Dr. Theo Waigel

Sie sagten einmal, dass man Politik nicht als Freund/Feind-Denken verstehen darf. Derzeit bekommt man aber den Eindruck, dass sie genau das ist.

Politik ist kein Liebesspiel. Sie besteht aus harter Auseinandersetzung und Kampf, aber nicht aus Feindschaft. Ich muss auch dem politischen Gegner die Hand reichen können. Sieht man sich allerdings Putin, Trump, die Semantik der AfD oder die Polemik von Frau Wagenknecht an, dann sind das neue Töne, die das Regieren und den demokratischen Prozess erschweren.

Zuletzt gab es den Versuch zwischen Regierung und Opposition in der Migrationsfrage trotz Differenzen zu einer gemeinsamen Einigung zu kommen. Der Versuch scheiterte. Warum?

Der Regierung fehlt es an Substanz, um in großen Fragen wie der Migration ein substanzielles Gespräch mit der Opposition zu führen. Da muss sich die Ampel noch bewegen, da sind die Grünen noch nicht so weit.

Die Grünen haben sich aber in den vergangen drei Jahren schon weit aus ihrer Wohlfühlzone herausbewegt und viele Kröten schlucken müssen.

In der Außen- und Verteidigungspolitik haben sie tatsächlich eine Totalkehrtwende im Vergleich zu den Grünen aus den 80ern hingelegt. Aber wirtschaftspolitisch hat Herr Habeck nur Murks produziert. Und Klimapolitik kann man nur mit und nicht gegen die Menschen machen.

Markus Söder schließt eine Koalition mit den Grünen aus. Die Optionen in der demokratischen Mitte werden aber immer weniger. Ist so eine Absage ein Jahr vor der Bundestagswahl nicht fatal?

In der Politik darf man nichts völlig ausschließen. Ich habe früher bei der Frage, ob ich Steuererhöhungen im Zuge der Wiedervereinigung ausschließe, einfach nicht geantwortet.

"Trauer gibt es auf dem Friedhof, aber nicht in der Politik."

Dr. Theo Waigel

Der rechte Rand wird in Deutschland immer stärker. Die AfD hat in den vergangenen Wahlen Rekordergebnisse eingefahren. Auch während ihrer Regierungszeit in den 1990ern brannten beispielsweise Asylheime. Ist das, was wir heute erleben nur Altes in neuem Gewand?

Nein, das heute hat schon eine andere Dimension. Damals waren es überwiegend Einzeltaten aus dem rechten und linken Rand, aber es hatte keine breite Basis. Heute kommen solche Bewegungen in den Ländern auf bis zu 30 und im Bund auf bis zu 16 Prozent. Das ist die größte Herausforderung für unsere demokratische Ordnung seit 1949. Mit den Feinden der Demokratie muss man argumentativ und mit den Mitteln des Rechtsstaats vorgehen.

Und man muss der Bevölkerung viel mehr klarmachen, was es für Folgen für die deutsche Wirtschaft hätte, wenn diese Ignoranten aus der EU und aus dem Euro austreten wollen. Das wird der AfD viel zu wenig vorgehalten.

Sie sagen selbst: "Mit den Mitteln des Rechtsstaats vorgehen". Braucht es also ein AfD-Verbot?

Das ergibt nur Sinn, wenn man so viel Material hat, dass ein Verbot mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beim Bundesverfassungsgericht durchgeht. Aber das Grundgesetz bietet mit Artikel 18 die Möglichkeit, gegen einzelne radikale Personen vorzugehen, die beispielsweise die Grundrechte anderer verletzen. Da gäbe es in der AfD genug Beispiele. Doch dieses Mittel hat man seit 1949 noch nie eingesetzt.

Friedrich Merz ist jetzt der Kanzlerkandidat der Union. Glauben Sie, Markus Söder ist traurig über eine weitere verpasste Chance?

Trauer gibt es auf dem Friedhof, aber nicht in der Politik. Dort gibt es Erfolge und Enttäuschungen und mit beiden muss man fertigwerden. Der Politiker, der mit den Erfolgen und Misserfolgen nicht fertig wird, muss die Politik verlassen.

Das heißt?

Markus Söder ist Manns genug, den richtigen Weg zu finden.

Ist für Sie Friedrich Merz der richtige Kandidat?

Die Wahl ist getroffen. Friedrich Merz hat eine Leidenschaft für die Politik entwickelt. Wenn man dreimal antritt und das nach einem erfüllten Berufsleben, um sich in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen, dann verdient das Respekt.

Über den Gesprächspartner

  • Dr. Theo Waigel wurde am 22. April 1939 in Oberrohr bei Krumbach geboren. 1957 trat er in die Junge Union, 1960 in die CSU ein. Waigel war von 1988 bis 1999 Vorsitzender der CSU. Von 1972 bis 2002 war er Mitglied des Deutschen Bundestags. In dieser Zeit war Waigel von 1989 bis 1998 unter Bundeskanzler Helmut Kohl Finanzminister. Er ist damit bislang der am längsten amtierende Finanzminister der deutschen Geschichte. Im Kabinett Kohl war Theo Waigel für die Wiedervereinigung und später für die Einführung des Euro mitverantwortlich. Er trägt bis heute den Spitznamen "Mr. Euro". Seit 2009 ist er Ehrenvorsitzender der CSU. Neben seiner politischen Tätigkeit arbeitet Theo Waigel bis heute als Anwalt mit eigener Kanzlei in München.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, Theo Waigel stamme aus "Oberrohr im Allgäu". Das ist nicht korrekt. Stattdessen ist richtig, dass er aus Oberrohr bei Krumbach stammt. Wir haben die entsprechende Stelle geändert.

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